Architekt, Ingenieur, Künstler. ein Besuch im Atelier von Santiago Calatrava
Francesca Prader (Text), Christian Merz (Bilder)
Nach dem visionären Entwurf des Bahnhofs Stadelhofen entsteht daneben ein neuer Bau von Santiago Calatrava
Die Architektur von Santiago Calatrava ist unverkennbar: raumgreifend, futuristisch, geprägt von organisch wirkenden geschwungenen Linien, die oft an Skelette erinnern. Seine Bauwerke beein drucken weltweit, von New York bis Taipeh und von Dublin bis Dubai.
Sein Büro im Zürcher Kreis 2 will auf den ersten Blick nicht so recht in dieses Bild passen. Die Villa wurde 1926 erstellt und diente der Zürcher Brauereifamilie Hürlimann über Jahrzehnte als herrschaftliches Wohnhaus. Jede Ecke inklusive Garten stehe unter Denkmalschutz, sagt Calatrava und begrüsst die Besucher herzlich mit einem festen Händedruck. Seinen eng getakteten Terminkalender lässt er sich nicht anmerken, er sprudelt gleich los und wirkt, als hätte er alle Zeit der Welt. Seit über fünfzig Jahren lebt der gebürtige Spanier in Zürich.
Ein Geschoss höher arbeiten die Ingenieure, ein Geschoss tiefer die Architekten. Dazwischen befindet sich Calatravas Büro. Es gibt viel über ihn preis – den Architekten und Ingenieur, aber auch den Menschen und Künstler.
Den Raum beherrscht ein langer Glastisch. Darauf liegen unter anderem Entwürfe für die Brücke, die dereinst in Eglisau den Rhein überspannen wird. Die Detailskizzen einzelner Brückenbestandteile zeigen: Calatrava justiert unermüdlich bei seinen Projekten. Verschiedene Bleistifte – von denen einige nur noch Stummel sind – liegen neben einem kleinen Aquarellmalkasten. Die Farben darin sind noch nass, der Architekt hat ein paar Farbkleckse an den Händen.
Nach Diplomen oder Auszeichnungen für sein Schaffen sucht man fast vergeblich. Einzig die Berufungen zum päpstlichen Berater für Kulturfragen und der erste Preis für einen Taubenwettflug, den er als Kind zusammen mit seinem Onkel, einem Taubenzüchter, ergatterte, haben einen Platz an der Wand erhalten.
Jacht – oder gestrandeter Wal?
Santiago Calatrava ist ein Mann, der gerne spricht. Ein Stichwort reicht, und der 73-Jährige kommt ins Erzählen, wechselt von einem Thema zum nächsten, ohne dass es langweilig wird. Der eigentliche Anlass des Treffens gerät immer wieder in den Hintergrund. Drei Jahrzehnte nach dem Bahnhof Stadelhofen nimmt daneben ein weiterer Bau Calatravas Form an: das Haus zum Falken – das je nach Sympathie mit einer Jacht oder einem gestrandeten Wal verglichen wird. Für Calatrava ist es «ein relativ kleiner Bau», wie er sagt.
Unabhängig von der Grösse eines Projekts steht im Zentrum von Calatravas Schaffen eine kreative Dualität, die auch in seinem Büro omnipräsent ist: Seine Tätigkeit als Architekt und Ingenieur ist untrennbar mit seinem künstlerischen Schaffen verbunden. Eine Ecke seines Arbeitszimmers ist der Lithografie gewidmet, im alten Hauswartshaus und in der Garage befindet sich das Atelier, in dem Calatravas Skulpturen entstehen. Nicht alle fertigt er selber an. Je nach Grösse und Material sucht er die Zusammenarbeit mit Spezialisten.
Jeden Tag malt oder entwirft er etwas. Er könne gar nicht anders, sagt er. Es gibt kaum eine Kunstgattung,an der er sich noch nicht versucht hat: von Aquarellzeichnungen über Bühnenbilder, Lithografien und abstrakte Malerei hin zu Keramik und Skulpturen aus allerlei Materialien. «Die Bedeutung meiner Kunst für meine Architektur ist nicht sehr bekannt», sagt Calatrava. Doch was «scheinbar nebenbei» entsteht, bildet die Basis für so manches seiner Bauwerke. Er halte es mit Corbusier: «S’il faut donner de l’importance à mon travail, il faut donner de l’importance à la recherche passionnante.» Eine Skulptur aus aufeinandergestapelten Würfeln zum Beispiel findet sich in der Form eines Hochhauses in der schwedischen Stadt Malmö wieder, dem «Turning Torso».
Das Haus zum Falken am Stadelhofen hat seinen Ursprung in einer künstlerischen Studie: in einer Reihe von Wandinstallationen, die aus langen, farbigen Aluminiumlamellen gefertigt sind. Durch die Dreidimensionalität entsteht ein Spiel aus Licht und Schatten. «Diese Installationen waren die Inspiration für die Fassade», sagt Calatrava.
Wie die Installationen besteht die Aussenhülle des Hauses zum Falken aus langen, schmalen Streifen – wobei nicht Aluminium, sondern Glas verwendet wird. Das Konzept erinnert an eine überdimensionale Skulptur. Der Rohbau steht frei, ohne Gerüst. Ein solches würde am hektischen Bahnhof stören. Aber auch den Arbeitern wäre es im Weg. Deshalb sind sie direkt am Gebäude angeseilt, wie Bergsteiger. Auch das macht die Baustelle aussergewöhnlich. Die oberirdischen Geschosse sind fast durchgehend einsehbar.
Mitte November steht die Montage der Fassade an. Die zu Gruppen zusammengefassten und vorgefertigten Fassadenelemente werden dann an ihren Platz gehängt. Die Halterungen an den Etagenböden sind bereits zu sehen. Sie seien hierfür in ihrer Position genau eingemessen worden, sagen die zuständigen Ingenieure.
Der Stadelhofen ist ein bedeutungsvoller Ort für Santiago Calatrava. Der 1990 fertiggestellte Bahnhof gehört zu seinen ersten Werken. Nochmals hier bauen zu dürfen, sei auch deshalb ein besonderer Anlass, sagt Calatrava. Aber nicht nur. Der kleine Stadelho-ferplatz und das grosse Bellevue, zwei Plätze, die zusammen ein L bilden: Diesem ungleichen Paar mit unterschiedlichen Massstäben habe er immer eine grosse Bedeutung beigemessen. Es sei eine städtebauliche Besonderheit, die ihn an Italien erinnere.
Immer wieder holt Calatrava im Gespräch weit aus, um sich dann erneut dem eigentlichen Thema anzunähern. Man erhält einen Eindruck davon, wie er denkt, wie er Themen angeht.
Zürich habe etwas Italienisches, genauer gesagt etwas Römisches, sagt der gebürtige Spanier. «Turicum war eine römische Kolonie.» Zwingli habe die Stadt transformiert, «aber auch ruiniert», resümiert Calatrava. Die Anhänger der Reformation leerten die Kirchen, erst Chagall sei es mit seinen bunten Kirchenfenstern gelungen, wieder etwas Leben in das Fraumünster zu bringen.
«Ich wollte nicht ins Militär»
Einen grossen Teil seines Lebens hat Santiago Calatrava in Zürich verbracht. In den 1970er Jahren kam er in die Schweiz, um «am Poly», wie er die ETH konsequent nennt, zu studieren. Dass er sein Heimatland nach sechs Jahren Architekturstudium verlassen habe, sei der damaligen Zeit am Ende der Franco-Diktatur geschuldet gewesen. «Die Umstände waren schwierig. Ich wollte nicht in Spanien bleiben, und ich wollte nicht ins Militär.»
Zürich, so sagt er, sei «eine grossartige Stadt». Auch wenn sie es Zugezogenen nicht immer leichtmache. Ganz anders sei es beispielsweise in New York.
«Die Zeit, die es braucht, um New Yorker zu werden, ist die Dauer der Taxiwo man in Manhattan die Füsse auf den Boden stellt.» Auch wenn man dort direkt in einen Hundehaufen trete, wie es ihm bei seinem ersten Besuch passiert sei. «Man nannte mich einen ‹lucky man› deswegen», sagt er lachend. Bis heute fühle er sich als New Yorker und sei regelmässig dort.
Das Schicksal habe dazu geführt, dass er einen grossen Teil seines Lebens in Zürich verbracht und das Schweizer Bürgerrecht erworben habe, sagt der 73-Jährige. «Aber ich bin kein waschechter Zürcher, das singen die Vögel von den Dächern.» Calatrava begegnet dieser spezifischen Zürcher Eigenart mit Gelassenheit. «Es ist mein Leben, und ein grosser Teil meines Schicksals ist von mir selbst bestimmt.» So, wie es der spanische Philosoph José Ortega y Gasset gesagt habe: «Du bist du und deine Umstände. Aber vor allem: Du bist du.» Dadurch, dass er nicht hier aufgewachsen sei, habe er eine andere Perspektive auf Zürich: die eines Betrachters, «nicht kontaminiert durch Insiderwissen». Das erlaube ihm möglicherweise sogar, die Stadt klarer zu sehen als Einheimische.
Eine Stadt, drei Orchester
Er erinnere sich gut an seinen ersten Eindruck von Zürich: eine Stadt mit damals rund 350 000 Einwohnern, aber drei Orchestern. Das Opernhaus, die Tonhalle und das Kammerorchester. «Das muss man sich einmal vorstellen!» Dann drei Hochschulen und ein Flughafen mit Verbindungen in die ganze Welt. «Wo findet man so etwas sonst?», fragt Calatrava rhetorisch.
Besonders angetan ist der Architekt futuristischer Gebäude aber von Zürichs Bauten aus dem 19. Jahrhundert. Der Hauptbahnhof, oberhalb davon das «Poly» und die Universität, entstanden in einer Zeit, als Zürich fast noch eine Stadtmauer hatte. «Escher und all die Leute, die diese Bauten vorangetrieben haben, das waren Visionäre, die die Stadt zu dem gemacht haben, was sie heute ist.» Solche städtebaulichen Visionäre fehlten heute, sagt Calatrava. Zürich seien die Grosszügigkeit und die Spontaneität abhandengekommen.Alles werde im Komitee, im Verein, in der Partei, «entre nous» gelöst. Doch seine Meinung zur Architektur eines Ortes spiele keine Rolle, sagtder Architekt. Er wolle nicht werten und halte es deshalb mit Picasso: «Je ne suis pas un collectionneur.»
Immerhin seien «Umweltverbrechen wie die Sihlhochstrasse» oder die Tunnelstrasse beim Bahnhof Enge – «dieses Loch da unten» – heute nicht mehrdenkbar, sagt Calatrava. Die Haltung der Stadtplanung habe sich komplett geändert. Früher sei alles derart auf das Auto ausgelegt gewesen, dass man neben dem ersten Hochhaus der Stadt –dem Haus zur Palme – eine Tankstelle gebaut habe. «Heute müssen die Städte die Fussgänger ehren.» Das sage er als einer, der keinen Fahrausweis habe, obwohl er Autos liebe. Für Calatrava ist der Stadelhofen Inbegriff eines Orts, an dem Urbanität und Gartencharakter der Stadt aufeinandertreffen. Wie schon der Bahnhof sei auch das Haus zum Falken eine experimentelle Auseinandersetzung im Spannungsfeld dieser beiden Aspekte. Mehr als ein Jahrzehnt ist es her, dass die Axa-Anlagestiftung, der das Grundstück mit dem Neubau gehört, bei Calatrava «angeklopft» hat. Interessant seien nicht nur der Ort und die Lage, sondern auch die Motivation der Bauherrschaft, einen Beitrag an die Stadt zu leisten. Das zurückversetzte Erdgeschoss schaffe zusätzlichen Platz vor dem Bahnhof. «Das wird man sehen, wenn die Baustelleninstallationen weg sind», erklärt Calatrava. Die dreigeschossige unterirdische Velogarage werde zudem Ordnung auf den Platz bringen. Heute seien die Velos am Stadelhofen mehr schlecht als recht parkiert unter den schönen Platanen, manchmal geradezu hingeworfen, sagt Calatrava, der sich selber jeden Tag aufs Fahrrad schwingt, um von seinem Wohnhaus im Seefeld ins Büro zu fahren.
Etwas zurückgeben
Voraussichtlich in einem Jahr werden die Arbeiten am Haus zum Falken abgeschlossen sein. Ende 2025 wird die Velogarage in Betrieb genommen. Dann ziehen auch die ersten Mieter ein, unter ihnen die Confiserie Bachmann im Erdgeschoss. Zwei der vier Obergeschosse sind an das Spital Zollikerberg vermietet.
Etwas zurückgeben zu können, ist Santiago Calatrava ein grosses Anliegen. Bei Anfragen für Vorträge an Schulen sage er prinzipiell zu. Er sei selbst ein Produkt der Universität, alles, was eine Hochschule zu geben habe, habe er bekommen. Und er nimmt sich gerne Zeit, den Besuchern sein Atelier in der Enge zu zeigen. Man merkt, dass es ihm Freude bereitet, Einblick in sein künstlerisches Schaffen zu geben.
Sein Atelier würde er gerne vergrössern, sagt Calatrava. Arbeit hätte er mehr als genug. Doch es sei schwierig, eine Bewilligung zu bekommen. «Wäre ich jünger, würde mich das Warten nicht so stören», scherzt er.
Voller Elan schreitet Calatrava durch den Garten zum Atelier. Dort sind zwei Schreiner gerade damit beschäftigt, Bilderrahmen für eine Serie von Kohlezeichnungen zu fertigen. Auf den Fenstersimsen stehen verschiedene Prototypen von Plastiken, die der Architekt entworfen hat. Solche Werke könne er eng begleiten, kleinste Details anpassen, vielleicht auch einmal von vorne beginnen, wenn das Material nicht passe, sagt Calatrava. Ganz anders verhalte es sich mit seiner beruflichen Tätigkeit. Hier komme die Realität der Baumeister und Handwerker ins Spiel, die allen zugutekomme. Denn würde jeder Schritt, jeder Handgriff den Architekten überlassen, man stünde am Ende in einer Einöde.
«Als Architekt kann ich nicht hingehen und sagen: ‹Das ist mein Erzeugnis.›» Es sei vielmehr die Materialisierung eines Entwurfs durch eine enorme Menge Leute. «Ihre Hände sind es, die bauen.» Davor habe er grossen Respekt.
«Grosse Perioden in der Architektur gehen Hand in Hand mit grossen Perioden des Handwerks.» Man nehme nur die Wiener Werkstätte: Ohne Gustav Klimt, Josef Hoffmann oder Koloman Moser gäbe es etwa kein Palais Stoclet nahe Brüssel, «eines der schönsten Gebäude des 20. Jahrhunderts». Oder die Sagrada Família in Barcelona. «Ohne all diese guten Handwerker wäre nichts entstanden.» Zum Beruf eines Architekten gehöre folglich auch, dass man loslassen könne. Schwer falle ihm das nicht, sagt Calatrava. Es gehe ja nicht anders.
Was Santiago Calatrava auch mit 73 Jahren nicht loslassen kann, ist die Arbeit. «Ich mache gern, was ich mache», sagt er, greift zu einem Bleistift und zeichnet zum Abschied eine Frauenfigur, die eine Taube fliegen lässt.Tauben möge er besonders, sagt er. Sie erinnern ihn an seinen Onkel, den Taubenzüchter.